Von der Liebe in regenreichen Zeiten.
ll Schottland II
Vor langer Zeit stand ich in auf einem Dielenboden in einem Café, und mir gegenüber stand ein Mann, der mich anlächelte. Ich erinnere mich an den Geruch von frischem Kaffee, der aus der Maschine waberte. Ich erinnere mich daran, wie das Sonnenlicht sich durch die Regenwolken kämpfte und durch die Fenster lange Streifen vor mir auf den Boden warf, an das gedämpfte Murmeln der wenigen Gäste. Und an die Schafe, die wie zwei weiße Wollknäuel in der Ferne über die Hügel des Hochmoors von Schottland liefen.
Das Café war ein "Community Cafe", es lag am Rand einer Bundesstraße, die sich durch die Hügel voller Gräser und Schilfrohr schlängelte, vorbei an den uralten Grabsteinen, die an längst gefallene Kämpfer der anglo-schottischen Grenzkriege erinnerte. Jedes Haus in dieser Region war aus grauen Steinen gebaut, überall lagen bemooste kleine Steinhaufen. Alles war Regen, Feuchtigkeit und Leben in diesem Land.
Nach fünf Jahren Leistungsdruck in meinem Studium der Politik und Philosophie war ich an meinen eigenen Hochleistungsansprüchen gescheitert und war zu einem Aufenthalt in ein buddhistisches Kloster gezogen. Hier lebte und arbeitete ich, zwischen Erdhügeln und Pflanzenbeeten, aß morgens Porridge und saß abends auf der hölzernen Bank am Flussbett, sah zu, wie die Tannen auf der gegenüberliegenden Seite sich wiegten und beobachtete den entfernten Berghorizont hinter den Schafweiden.
Ich hatte aufgehört mich zu pflegen, mein Aussehen war mir egal geworden. Duschen, Haare waschen, Make-Up? Der Sinn meines Lebens war mir abhanden gekommen, ich wusste nicht mehr, wer ich war und was ich wollte. Wer war ich, ohne akademische Brillianz? Ich wusste es nicht mehr. Das Gift einer Depression lähmte jede Energie in meinem Körper und hielt mich im eisigen Atem des Stillstands gefangen.
Und dann stand da dieser Mann vor mir, auf der anderen Seite der Theke. Er hatte eine Nerdbrille auf, seine langen schwarzen Haare waren nachlässig zum Pferdeschwanz geschwungen und er schaute mich an, als er mir einen Filterkaffee einschenkte. Ehrlich und aufrichtig zeigte er mit seinem Lächeln an, dass er sich freute. Er lächelte mich einfach nur an, weil ich existierte. Ich wurde von ihm gesehen. Er freute sich, dass ich da war. Mein Herz wurde warm.
Es gab keine gegenseitige Anziehung zwischen mir und ihm. Es war kein romantisches Erkennen. Wir haben uns nie wieder gesehen nach diesem Moment. Vielleicht hat es deswegen so viel verändert. Aus jeder Depression konnte ich mich bislang befreien, weil ein anderer Mensch mir - unbewusst - geholfen hat. Die eisigen Flügelschwingen konnte ich nur überwinden, weil es jemanden gab, der durch die Schichten meiner Unsicherheit hindurch gesehen und mein ungepflegtes Äußeres überwunden hat. Dadurch konnte sich mein Herz mit einem anderen Herzen verbinden.
ll Freiburg im Breisgau ll
Ein knappes Jahrzehnt später laufe ich durch die Gänge von Galeria Kaufhof in der Freiburger Innenstadt und überlege, wen ich ansprechen soll. Wie in einem Schwarm Fische fließen die Einwohner:innen an mir vorbei, begleitet von dem Plätschern der Hintergrundmusik. Menschen laufen - gebückt, krumm, unsicher - über den Kachelboden, schieben ihre Körper an den Kleiderständern vorbei, fühlen sich erkennbar nicht wohl.
Ich habe eine Community für das ehrliche Kennenlernen von Menschen gegründet. Bei der Veranstaltung Drachenzwinkern lautet die Parole, einfach mal so , weil es Spaß macht und weil es möglich ist, Menschen kennenzulernen. Wir sind in der Innenstadt und hier gibt es genügend Exemplare von Menschen mit diesem ganz traurigen Feierabend-Tunnelblick, die die Kleiderständer mustern und oder Hände über die ostereigelben Mäntel gleiten lassen. Auf den ersten Blick tragen alle Gewicht mit sich herum, dass sie eigentlich nicht brauchen. Und es fällt mir schwer, "einfach so" auf sie zuzugehen.
Wie so viele Menschen, und zwar unabhängig von meinem Beziehungsstatus, betrete ich Räume und sortiere in meinem Kopf nach "Fuckability" - Kriterien diejenigen, die ich in der ersten Millisekunde attraktiv finde. genau nur die haben eine Chance mit mir zu reden, für die anderen interessiere ich mich ... nicht. Es ist ein unbarmherziges Spiel, was wir spielen und gleichzeitig doch so menschlich. Sozialpsychologische Studien, die sich mit Attraktivität beschäftigen, sind sich einig, dass Körpermerkmale das wichtigste Kriterium bei der Partnerwahl darstellen.
Ich denke an den Menschen, der unerschrocken alle fremden Menschen angesprochen hat. Wie würde Jesus fremde Menschen bei Galeria Kaufhof ansprechen, frage ich mich. Wenn er hier wäre, mit mir unter diesem Neonlicht und den grellen "Sale!"-Schildern. Er würde vermutlich keine Lederschuhe mehr tragen, sondern Barfußschuhe mit Fairtrade Zertifikat, seinen Vintage-Sweater aus Lammfell hätte er vermutlich vom Second-Hand Laden an der Basler Straße bezogen. Und doch: Bedingungslose Liebe. Die Evangelien sind voller Geschichten in denen Jesus Menschen durch ihre Hautkrankheiten begegnet. Und durch diese Äußerlichkeiten hindurch sieht. Er berührt die Menschen, die von Krankheiten, Ekzemen und Ungepflegtheit entstellt sind. Jesus schaut die Menschen einfach an und sie heilen. So wie damals bei mir in Schottland auch.
Warum nur?
Weil sie sich von ihm gesehen fühlen.
Und wenn wir dieses "Dating-Jesus-Prinzip" auf unsere Alltagsrealität übertragen, dann fügen wir dem "normalen" Sehen der Augen einfach noch etwas hinzu, wenn wir das nächste Mal eine Bar oder einen Supermarkt betreten. Wir brauchen dafür keine Religion, kein Kloster, keinen Gott.
Wir öffnen stattdessen unser Herz und sehen mit dem geöffneten Herz durch unsere Augen.
Und dann sehen wir wirklich.
Und wenn wir wirklich sehen, brauchen wir auch Menschen nicht nach Körpermerkmalen kategorisieren.
Denn im Endeffekt ist die Suche nach dem einen Partner, der "Richtigen" die leistungsorienterste Suche überhaupt. Wir können nur scheitern.
Aber wenn wir Menschlichkeit finden wollen, dann kann jede:r sofort damit anfangen. Sei Jesus für jemanden. Lächele jemanden an, der nicht deinem Attraktivitätsideal entspricht.
Und dafür musst du auch nicht am regenreichsten Ort in Schottland sein.
-.-
Drachenzwinkern - Nächstes Mal: Menschen kennenlernen mit Mitgefühl, Mittwoch, 13.03.24, 18-22 Uhr Link zur Veranstaltung
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DEPRESSION - ATEM HOLEN
Mir hat es immer sehr geholfen, in den dunkelsten Phasen meines Lebens eine nachsichtige Gemeinschaft um mich zu wissen.
Viele Kloster in Deutschland bieten einen kostenfreien Aufenthalt in Krisen an, bei denen man an den Ritualen und Tagesgeschehen teilnimmt (gärtnern, kochen, handwerkern). Ein Aufenthalt für Reflexion und Nachdenken in der Natur. Hier gibt es eine Liste zum Atem holen.
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