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AutorenbildValerie Tabea Schult

Fahrradfahrer:innenflirt

Aktualisiert: 5. Apr.






Es ist März. Krokusse stecken aus der kalten, dunklen Erde ihre Hälse empor. Als ich auf mein Fahrrad steige und zum Kirchplatz zur blauen Brücke emporfahre, hakt meine Kette. Ein Tanz in der Luft, meine Beine verheddern sich. Nach einem Break Dance Spagat, der nur den Bruchteil einer Sekunde dauert, befinde ich mich verkreuzt auf der Straße. Mein Fahrrad rollt nicht mehr gerade auf dem Asphalt, sondern liegt neben mir, meine braune Hose ist zerfetzt. Innerhalb von Sekunden bin ich von drei Stühlingern umringt, die mir aufhelfen.



Tags darauf stehe ich mit meinem Rad vor dem

Fahrradladen in der Nähe der Dreisam. Kinder schreien, Väter gehen mit Hunden spazieren. Majestätisch und langsam schiebe ich meinen Drahtesel an den gelben Quietscheenten und grünen Krokodilshupen an der Schaufensterauslage vorbei. Meine Schultern sind umhüllt von dem schwarzen Fuchspelz, den ich so sehr liebe. Ein wollener Mantel in Jagdgrün fließt an mir herunter, an meinem Kragen sind Perlen befestigt. Goldene Schnallen funkeln von meinen schwarzen Lederstiefeln. Mir ist es wichtig, auch im Moment der Niederlage, so elegant wie möglich auszusehen. Mein Aussehen war schon immer ein Schutz gegen die böse Welt da draußen. Je mehr du dich mit deinem Gold und Glitzerketten beschäftigst, umso höher dein Selbstwert, flüstert mir eine Stimme zu. Ich brauche dieses aristokratische Auftreten, um mich wertvoll fühlen zu können. Ich bin doch Akademikerin.


Leise spielt die Musik im Hintergrund. Könnten sie meine Kette reparieren? Der Geschäftsführer, Mitte 50, Typ Familienvater schaut auf. Seine Hände sind von Öl verklebt, kurze graue Haare borsteln über seine Finger, in seiner linken Hand hält er einen Schraubenzieher. Natürlich. Wir vereinbaren auch eine Reparatur der Bremsbeläge, er holt einen Notizblock hervor. Konzentriert wirft er mit seinem Kugelschreiber die Wörter auf den Rechnungszettel. Name? fragt er unwirsch. Valerie, antworte ich. Und sie?


Eine erste Irritation.

Ist das hier eine Datingbörse für Radfahrer? frage ich.


Ich lächele ihn an. Ein Augenzwinkern lang.


Sein Kopf runzelt sich, feine Konzentrationslinien überziehen seine Stirn. Dahinter arbeitet sein Gehirn. Er schaut hoch. Einen Luftzug lang.


Wie...? Weil ich nach ihrem Namen gefragt habe?


Dann beginnt er schallend zu lachen. Freut sich.


Ihre Nummer? fragt er.


Wir schauen uns an. Ein grünes Auge trifft ein braunes Auge. Verheißungsvoll ziehe ich meine Stirnfalten hoch.


Die diktiere ich Ihnen doch gerne, antworte ich.


Er muss noch mehr lachen. Er schüttelt sich richtig.


Ich hätte das nie geglaubt, ...das sie bei meiner Karriere... mit mir flirten, prustet er.


Als ich später über den Kirchplatz schlendere, radlos, alleine, nur mit meiner Handtasche, denke ich über Milieustrukturen nach. Habe ich hier mit einem Lächeln eine Klassenschranke überwunden?


Die Krokusse antworten nicht. Sie stecken nur schüchtern ihre Köpfe aus der Erde.





........


Mehr Informationen

Der wissenschaftliche Hintergrund: Datingstruktur in unterschiedlichen Milieus


Die Soziologie der Paarbildung kann als Prozess der Suche nach Übereinstimmungen gesehen werden („Gleich und gleich gesellt sich gern“).


Es kann angenommen werden, dass Personen höherer Klassen ge-

schlossene Veranstaltungen zum Kennenlernen potentieller Partner bevorzugen, "etwa Privatpartys, Vereine, Arbeitsplatz und Studium. Angehörige der unteren Klassen nutzen eher offene, marktartige Kontexte, etwa Volksfeste und andere öffentliche Veranstaltungen und Treffpunkte. Dabei fungiert der Tanz als wichtiges Medium der Kontaktanbahnung: Männer in Arbeiter- und Handwerksberufen sind ihrer Partnerin zu 30% bis 36% bei einer Tanzveranstaltung begegnet, solche in gehobenen Berufspositionen nur zu 11% bis 15%"


Aus: Körperkapital und Partnersuche in Clubs und Diskotheken - Eine ungleichheitstheoretische Perspektive

Prof. Dr. Gunnar Otte, Universität Mainz Link zum Aufsatz (kostenlos)








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